Japanische Popkultur seit 1680

Die berühmte Welle von Hokusai, elegante Kurtisanen, tapfere Samurai, große Kabuki-Schauspieler – Diese Motive stehen für das ganz eigene Genre des japanischen Holzschnitts aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert. Holzschnittdrucke sind das zentrale Medium einer frühen Massenkultur, die vergleichbar ist mit jener im modernen Japan. Sie werden ebenso massenhaft produziert und professionell vertrieben wie die Mangas, Animationsfilme und Computerspiele, die heute die Popkultur des Landes prägen. Diese modernen Massenmedien bedienen, wie die Holzschnitte, die Bedürfnisse der Käufer nach Helden, Geistern, Traumwelten und Flucht aus dem Alltag. Das visuelle und stilistische Repertoire hat seine Wurzeln in der Kunst des Holzschnitts. Ebenso die Verknüpfung von Schrift und Bild und die Formen der Serialisierung. Bereits im 17. Jahrhundert vergötterten die Fans ihre Stars. Heute holen sie ihre virtuellen Helden im Cosplay (engl. costume play) in die Wirklichkeit. Spätestens in den 1970er Jahren erobert die Ästhetik der Mangas und Animes mit Biene Maja, Heidi, Hello Kitty oder den Pokémon die Kinderzimmer. Längst ist das Phänomen international. Manga-Bücher werden weltweit gelesen. Es gibt sie für Vorschulmädchen, Heranwachsende oder Angestellte. Vom 10. Juni bis zum 11. September 2016 entführt die Ausstellung Hokusai x Manga im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg in die aufregende Welt der japanischen Popkultur seit 1680. 

Über 1000 historische japanische Holzschnitte aus der einmaligen Sammlung des MKG sind auch nach Ende der Ausstellung jederzeit in der MKG Sammlung Online zugänglich. Die Abbildungen sind gemeinfrei und können für private, wissenschaftliche, kommerzielle und kreative Zwecke geteilt, heruntergeladen, bearbeitet und ausgedruckt werden.


Utagawa Kuniyoshi, „Ich will das Nächste sehen!“, Japan, Edo, 1852 Farbholzschnitt

Die Geburt des Comics

Die Bildergeschichte von Hishikawa Moronobu über den Dämon Shuten Dōji aus der Zeit um 1680 ist eines der ersten Beispiele für eine in Bildsequenzen erzählte, gedruckte Geschichte. Während des 17. Jahrhunderts etabliert sich in Japan ein kommerzielles Verlagswesen. Nach den ersten illustrierten Büchern für einen größeren Leserkreis erfindet man in der Millionenstadt Edo (heute Tokio) einen neuen Buchtyp für die konsumorientierte Bevölkerung: kibyōshi – benannt nach ihrem gelben Einband – sind populäre Bildergeschichten in erschwinglichen Heften im kleinen Format. Durch ihren Erfolg entwickelt sich eine Unterhaltungsindustrie, die in immer schneller auf das Verlangen nach neuen Reizen reagiert. Die Künstler verwenden für ihre Geschichten Bild-Text-Kombinationen, symbolhafte Chiffren, experimentelle Erzählstrategien und verkürzte Darstellungsformen. Mit diesen Gestaltungsmitteln inszenieren sie Dynamik und Spannung, die sich später in den modernen japanischen Comics wiederfinden. Die starke Typisierung der Figuren gewährleistet damals wie heute einen hohen visuellen Wiedererkennungswert.


Hiroshi Saito / unbekannt, Nach Waldemar Bonsels „Die Biene Maja“, Japan, 1975-1980, Anime-Cel mit Hintergrund, Sammlung Frostrubin, © Studio 100 Media GmbH

Neue Leser und Themen

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind Manga in Japan ein allgegenwärtiges Massenmedium, das millionenfach gedruckt und gelesen wird und zahlreiche Zielgruppen erreicht. Ende der 1980er Jahre erobert das Genre die westlichen Comicmärkte. Zunächst noch als exotische Publikationen von einem Spezialpublikum wahrgenommen, entwickelt sich mit dem steigenden Beliebtheitsgrad japanischer Animationsfilme, den Anime, eine große, zumeist junge Anhängerschaft mit subkultureller Ausprägung. Es entstehen neue Themen, Motive und Genres, die gleichermaßen die Bedürfnisse nach Action, Thrill und emotionalen Stoffen bedienen. Manga erzählen u.a. von zivilisationskritischen Zukunftsszenarien, dem Verhältnis von Mensch und Technik und von einem mehrdeutigen Spiel der Geschlechter, das im Manga in komplexen, vielschichtigen Identifikationsangeboten Ausdruck findet. 

Kobayashi Kiyochika, „Die Jōō- und Manji-Periode, Japan, Tōkyō, 1896, Triptychon, Farbholzschnitt
Cosplay-Fest im Kyoto International Manga Museum, Japan, 2010, Courtesy: imrc, © Kyoto International Manga Museum

Stars und Kurtisanen

Die Verleger der Holzschnitte (ukiyo-e) im Edo des frühen 17. Jahrhundert orientieren sich an der Nachfrage des städtischen Publikums. Beliebte Themen sind der Starkult des Kabuki-Theaters und der Glamour der Kurtisanen. Die Holzschnitte zeigen die luxuriös gekleideten Kurtisanen als Idole der Weiblichkeit. Sie bedienen die erotische Schaulust der Männer und liefern den bürgerlichen Frauen zugleich die aktuellen modischen Trends. Die Fans der Kabuki-Schauspieler kleben sich die Holzschnitte mit deren Portraits oder Paraderollen an die Wand, ahmen Eigenheiten und Redewendungen nach und bilden Fanclubs. Die modernen Stars sind fiktional, werden aber ebenso vergöttert. Sie sind wie etwa Osamu Tezukas Astro Boy so populär, dass sie verschiedenste Medien und Alltagswelten bevölkern und zu popkulturellen Ikonen aufsteigen. Ihre Fans erwecken sie im Cosplay mittels Kostümen und Accessoires zum Leben und imitieren Gestik und Mimik. Die Leidenschaft der Leser für das Zeichnen drückt sich zugleich in einer umfangreichen Fan-Art-Produktion aus. Beliebte Manga- und Anime-Stoffe finden Eingang in interaktive Computerspiele, zeitgenössisches Grafik- und Modedesign und bildende Kunst.


Jed Henry (Design), Blue Storm, 2013, Holzschnitt, Holzschnitt und Druck David Bull, © Jed Henry

Helden und Geister

Der zum Mythos stilisierte Samurai wird in den Holzschnittbüchern der Edo-Zeit zum Sinnbild für Loyalität und Ehre. Heldengeschichten wie die der 47 herrenlosen Rōnin bieten der Bevölkerung in der durch politische Restriktion und Willkür des Militäradels geprägten Zeit rechtschaffene Vorbilder. Die gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen bringen heute ganz neue Heldentypen hervor wie die Weltenretterin „Sailor Moon“ oder Weltraumkrieger in Form von Riesenrobotern. Holzschnitt-Künstler wie Katsushika Hokusai oder Utagawa Kuniyoshi geben der unheimlich-schaurigen Geisterwelt Japans, bevölkert von den yōkai, ein furchterregendes Antlitz und bedienen mit ihren Geschichten die Lust der Leser an Horror und Grusel. Insbesondere die Manga- und späteren Anime-Reihe „GeGeGe no Kitarō“ des Zeichners Shigeru Mizuki aus den 1960er Jahren hat die Popularität der folkloristischen yōkai in die Gegenwart übertragen. Mit Filmen wie „Prinzessin Mononoke“ und „Chihiros Reise ins Zauberland“ aus dem Ghibli Studio um Hayao Miyazaki erobert das Thema international die Leinwände.

Katsushika Hokusai, Die große Welle von Kanagawa, 1831, Farbholzschnitt
Keiichi Hara (Regie), Miss Hokusai, 2015, Film-Still, © 2014-2015 Hinako Sugiura•MS.HS / Sarusuberi Film Partners, All Rights Reserved
Jiro Taniguchi, Der spazierende Mann, 2009, Cover, erschienen beim Carlsen Verlag, September 2012, Aruku Hito © Jiro Taniguchi, 1992

Landschaften und Katastrophen

Um 1830 kommt das Reisen in Mode. Farbenfrohe Landschaftsbilder, wie Katsushika Hokusais Serie der 36 Ansichten des Fuji, zeigen berühmte Regionen und Orte und dienen als touristische Andenken. In der Moderne verliert das Genre an Bedeutung, nicht jedoch das Verhältnis von Menschen und Umwelt. Katsuhiro Otomo entwirft in seinem Science-Fiction-Epos Akira den urbanen Raum als Dystopie. Den negativen Stadtbildern setzt Jirō Taniguchi mit Der spazierende Mann den Flaneur gegenüber, der seine gewohnte Umwelt neu entdeckt. Die Erdbeben und die zahlreichen Kriege des Landes ab Mitte des 19. Jahrhundert beschäftigen auch die Künstler. So stellt Tsukioka Yoshitoshi etwa die Machtkämpfe zwischen ehemaligen Samurai und den Kaisertreuen dar. Auf den Holzschnitten von Utagawa Hiroshige II droht der feuerspeiende Vulkan mit dem nächsten Ausbruch. In seiner kritischen Erzählung Hadashi no Gen (Barfuß durch Hiroshima) schildert Keiji Nakazawas den Abwurf der Atombombe über Hiroshima und klagt auch den fanatischen Militarismus und Nationalismus auf japanischer Seite an.

Keiichi Hara (Regie), Miss Hokusai, 2015, Film-Still, © 2014-2015 Hinako Sugiura•MS.HS / Sarusuberi Film Partners, All Rights Reserved
Hiroshi Saitō / unbekannt, Wickie und die starken Männer, Japan, 1974, Anime-Cel, Leihgabe: Sammlung Frostrubin, © 1972 Zuiyo Production, © 2016 Studio 100 Media GmbH

kawaii und Kinderzimmer

Die typischen Ausdrucksformen des Manga zeichnen sich durch eine spezifische Bildsprache mit eigenen Darstellungskonventionen und visuellen Codes aus. Ein typisches Merkmal ist etwa die kawaii-Ästhetik, die u.a. mit einem verniedlichenden Kindchen-Schema arbeitet. Obgleich kawaii-Elemente in unterschiedlicher Ausprägung in nahezu jeder Manga- und Animespielart existieren, wird das Phänomen in Deutschland zumeist mit Medien für Kinder und Jugendliche assoziiert. In den 1970er Jahren entstehen zahlreiche bekannte Kinderbuchverfilmungen wie Die Biene Maja oder Heidi in deutsch-japanischen Koproduktionen, die auf das Animationshandwerk aus Ostasien zurückgreifen. Besonders ausgeprägt ist dieses Stilmittel bei Merchandising-Artikeln oder ganz eigenständigen Produktlinien wie beispielsweise Hello Kitty, die nicht aus bestehenden Manga-Themen und -Figuren hervorgehen. Solche crossmedialen Vermarktungsstrategien weiten die fiktionalen Bildwelten von Manga und Anime auf viele Bereiche des Alltags- und Konsumlebens aus.


       Programm

Foto: T. Grimm

Hamburg MaGnology 2016 im MKG
Feiern Sie Manga, Games und Cosplay. Vom 1. bis 3. Juli bietet die Fan-Messe Hamburg MaGnology 2016 im MKG einen Cosplay-Wettbewerb, Foto-Shootings, Workshops, Lesungen, Live-Zeichnen, Vorträge, Mappen-Sichtungen und viele spannende Aussteller. Tagestickets (12 €/Tag, erm. 8 €/Tag) und 3-Tageskarten (18 €) sind an der Kasse im MKG erhältlich.

© Inga Steinmetz Carlsen Verlag Hamburg 2015

Open Manga School
Greifen Sie zum Stift! In einem Workshop zeigt Ihnen Profi-Zeichnerin und Carlsen-Autorin Inga Steinmetz die ersten Schritte zur eigenen Comic-Figur. Lernen Sie, wie Augen, Haare und Accessoires einem Charakter Ausdruck verleihen und wie Sie Freude oder Wut darstellen. Mutige Manga-Schüler wagen sich an die Königsdisziplin des Zeichnens: Hände, Füße und Ganzkörperansichten. Die Workshops finden statt am 12. Juni, 25. Juni und 17. Juli. | für Kinder und Erwachsene | im Eintritt inbegriffen

Katsushika Hokusai, Der Oiwa-Geist, um 1831/32, Farbholzschnitt

Geister treffen. Von Einaugen und Mehrfachsteckern
Erleben Sie eine geistreiche Nacht im MKG. Lauschen Sie am 9. September von 21 bis 0 Uhr japanischen Spukgeschichten, begegnen Sie Yokai mit menschlichen und tierischen Zügen und lassen Sie sich vom Schicksal unserer hauseigenen Tsukumogami mitreißen. Wir garantieren schaurig-schöne Abenteuer. | Eintritt 9 € inklusive Ausstellungsbesuch im Vorverkauf (ab 16. August) und an der Abendkasse des MKG | begrenzte Teilnehmerzahl | Reservierung unter vermittlung@mkg-hamburg.de


Katalog zur Ausstellung

Hrsg. Sabine Schulze, Nora von Achenbach und Simon Klingler, mit Beiträgen von Sabine Schulze, Nora von Achenbach, Simon Klingler, Jaqueline Berndt und Julika Singer, Deutsch/Englisch, Hirmer Verlag, 2016, 240 Seiten, über 200 farbige Abbildungen, 21 x 28 cm, Klapperbroschur, ISBN: 978-3-7774-2656-3, 29,90 Euro. Erhältlich in der Buchhandlung Walther König. Eine Leseprobe gibt es hier.


Die Ausstellung wird ermöglicht durch Mittel aus dem Ausstellungsfonds der Freien und Hansestadt Hamburg und der Justus Brinckmann Gesellschaft. Die Ausstellung entsteht in Kooperation mit dem Carlsen Verlag. Der Katalog zur Ausstellung wird gefördert von der Ernst von Siemens Kunststiftung.